Inklusionschancen im ländlichen Raum – Landwirt*innen als Anbieter*innen
Modelle nach §60 BTHG und Unterstützungsmöglichkeiten
Nachfolgend erfahren Sie in allen Details, auf welcher rechtlichen Grundlage die Sozialgenossenschaft alma eG arbeitet.
1. Andere Leistungsanbieter als Inklusionschance
Mit der Verabschiedung eines neuen Bundesteilhabegesetzes wurden erstmalig sogenannte „andere oder alternative Anbieter“ für die Erbringung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben vom Gesetzgeber zugelassen.
Damit können erstmals die Weichen gestellt werden, Betreuungs- beziehungsweise Inklusionsleistungen durch landwirtschaftliche Betriebe mit einer standardisierbaren Finanzierung anzubieten. Eine vergleichbare Entwicklung hatte in der Vergangenheit in den europäischen Nachbarländern zu einer deutlichen Zunahme an Einsteiger*innen in den sozialen Bereich und zur breiteren Etablierung von Angeboten der sozialen Landwirtschaft geführt.
Gleichzeitig birgt eine neue Angebotsform auch das Risiko, dass durch Kostendruck und Konkurrenz zu Lasten der Qualität gespart wird. Dem gilt es mit angemessenen Qualitätsstandards entgegen zu wirken.
2. Andere Anbieter – was heißt das?
Menschen mit Behinderung haben u.a. Anspruch auf „Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben“. Die Ausgestaltung dieser Leistungen hängt ab vom persönlichen Bedarf, dem Anbieter und weiteren Faktoren ab. Ergänzend zum bisherigen Portfolio sollen nun für Menschen mit einer sog. „vollen Erwerbsminderung“ auch „alternative Leistungsanbieter“ zugelassen werden. Die Zulassungsvoraussetzungen für andere Anbieter weichen in folgenden Punkten von denen der bisherigen Hauptanbietern WfbM ab: (§60)
- Kein Mindestplatzgebot
- Keine förmliche Anerkennung
- Keine Aufnahmeverpflichtung
- Änderungen beim Qualifizierungsnachweis
Die Angebotsform „Andere Leistungsanbieter“ ist nicht speziell auf soziale Angebote in der Landwirtschaft zugeschnitten, sie umfasst sämtliche Branchen. Landwirtschaftliche Betriebe verfügen aber häufig über ein besonderes Potential, das Teilhabeangebote sinnvoll und attraktiv macht. Die obigen Änderungen bedeuten deutliche Verbesserungen der (Start- )Bedingungen für landwirtschaftliche Betriebe, die Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben anbieten bzw. anbieten wollen.
3. Andere Anbieter – was bringt das?
Chancen für Leistungsnehmer*innen
Für Menschen mit Behinderung bringt diese Neuerung einige Vorteile : Durch die auf diesem Weg machbare Erweiterung der Angebotspalette steigen die Chancen wohnortnah eine Beschäftigungsmöglichkeit zu finden. Im Sinne eines umfassenderen Wunsch- und Wahlrechts können vielfältigere Berufs- bzw. Beschäftigungswünsche realisiert werden. Das verfügbare Budget für Betreuungsbedarf ermöglicht individuell notwendige Unterstützungsleistungen auch in einem betrieblichen Umfeld anzubieten. So können auch Menschen mit langfristigem und höherem Unterstützungsbedarf inklusive Beschäftigungsangebote wahrnehmen. Die Wahlmöglichkeiten zur Teilhabe am Arbeitsleben verbessern sich.
Chancen für landwirtschaftliche Betriebe als neue Anbieter
Viele landwirtschaftliche Betriebe sind offen für Perspektiven ergänzend zur klassischen Nahrungsmittelproduktion. Wenn Betriebe ihre besonderen Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit Unterstützungsbedarf öffnen und diese speziell auf deren Erfordernisse anpassen und angemessene Begleitung anbieten, kann der dadurch entstehende zusätzliche Aufwand im Modell „anderen Anbieter“ als Dienstleistung geltend gemacht und realistisch vergütet werden. Um die fachliche Qualität der Teilhabeangebote zu sichern müssen bestimmte Anforderungen erfüllt werden. Die Vergütung für Leistungsanbieter ermöglicht an dieser Stelle aber auch personelle Ressourcen für Unterstützung und Betreuung innerhalb des Betriebes frei zu stellen und/oder diese Anforderungen durch Kooperationspartner ab zu decken. Diejenigen Betriebe, die das Interesse, die Bereitschaft und die Kompetenz mitbringen, mit Menschen mit Behinderung zu arbeiten, können als „andere Leistungsanbieter“ dieses Engagement zu einem wirtschaftlich tragfähigen Betriebszweig ausbauen.
Chancen für erfahrene Anbieter
Einrichtungen oder Träger, die bereits vor der Änderung des BTHG Teilhabeleistungen für Menschen mit Behinderung angeboten haben, können die neue Angebotsform aufgreifen. Um das besondere, inklusive Potential betriebsnaher Beschäftigung zu erschließen gilt es die Unterstützungsmöglichkeiten zu flexibilisieren und mit betrieblichen Partnern zusammen Angebote zu gestalten. In Kooperation mit landwirtschaftlichen Betrieben können soziale Partner*innen ihre Erfahrung und Kompetenz in Anleitung, Unterstützung und Gestaltung von Arbeitsprozessen in Leistungsmodulen mit einbringen und ihr Profil dahingehend als Coaches und Mentor*innen erweitern.
4. Die Idee: Mehrere Partner*innen – einheitlicher Standard
Im Mittelpunkt der Gestaltung von Angeboten zur Teilhabe am Arbeitsleben steht derjenige Mensch, der sie in Anspruch nimmt. Für dessen Bedürfnisse und soweit möglich auch dessen beruflichen Wünsche gilt es Lösungen zu entwickeln.
Ein gutes Angebot im Projektsinne vereint
- angepasste Beschäftigungsmöglichkeiten im Arbeitsfeld Landwirtschaft
- betriebliches Umfeld
- fachliche Begleitung
- Qualitätsanforderungen
Um hier eine verlässliche Qualität zu gewährleisten verpflichten sich die Anbieter*innen im Projekt differenzierten Qualitätskriterien. Diese umfassen Anforderungen in den Bereichen
- Fachliche Begleitung, zum Beispiel zu Verfügbarkeit von Reha-Kompetenz
- Konzeption, zum Beispiel zur Entwicklung eines Leitbildes
- Transparenz , zum Beispiel zur Veröffentlichung der Angebotsstruktur
- Arbeitsschutz, zum Beispiel zum Umgang mit Gefahrstoffen
- Recht, zum Beispiel zu klaren vertraglichen Regelungen
Zertifizierte Qualitäts–Standards zu…
Fachlicher Begleitung
- Verfügbarkeit von Kompetenz für Reha-Arbeit (SPZ, FAB) – intern (eigene Ausbildung) oder durch Partner ( abrufbare Fachkraft)
- Starter-Schulung für alle Einsteiger*innen
- Reflexion der eigenen Arbeit in Supervision und kollegialem Austausch
- Verpflichtung zur regelmäßigen Weiterbildung
Arbeitsschutz
- Einhaltung der Standards der Berufsgenossenschaften
- klare Vereinbarung der Zuständigkeiten unter den Partnern
- zu Arbeitszeiten, Wochenendzuschlägen
Diese Standards sind im Projektrahmen bundesweit einheitlich und werden der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Katalog wird derzeit mit mehreren erfahrenen Partner*innen zusammengestellt und überprüft.
Kooperation
Zur Erfüllung der erforderlichen Kriterien schließen sich vor Ort in der Region mindestens zwei Partner*innen zusammen. Dabei übernehmen beide gemäß eines verbindlichen, individuellen Vertrags bestimmte Leistungspakete aus einem umfassenden Modulkatalog und erhalten dafür die entsprechende Vergütung. Die Aufgabenverteilung innerhalb der Kooperationen kann unterschiedlich sein und richtet sich nach dem Bedarf der Teilnehmer*innen und den vorliegenden Kompetenzen und Ressourcen auf dem einzelnen Betrieb. Die Kernelemente Beschäftigung und Anleitung übernimmt dabei in aller Regel der Betrieb. Viele Module wie „Berufliche Bildung“ oder „Entwicklungsbegleitung“ können je nach Qualifikation betriebsintern oder über den regionalen Partner abgedeckt werden. Das Angebot „Verlässliche Ansprechpartner*innen für Konflikte oder Probleme“ ist dagegen zum Schutz der Beschäftigten zwingend extern zu besetzen.
Modelle der Kooperation
Neben dem landwirtschaftlichen Betrieb auf der einen Seite sind auf der anderen Seite verschiedene Partner denkbar. Einerseits soziale Einrichtungen oder Dienstleister,die auch an anderen Stellen Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben anbieten (z.B. als WfbM) und mit ihrem ausgebildeten Team bestimmte Dienstleistungen auf dem Betrieb übernehmen. Dies ist möglich für einen Betrieb allein oder auch für mehrere Betriebe im Einzugsbereich.
Andererseits kann die erforderliche Fachkraft auch speziell eingestellt werden, um die benötigten Dienstleistungen auf mehreren Betrieben bereit zu stellen. Die Rolle als Koordination und Arbeitgeber*in können in dem Fall verschiedene Träger übernehmen:
- Elterngruppen oder Trägervereinen
- Kammern, Anbau- oder Bauernverbände
- ein landwirtschaftlicher Betrieb oder ein Zusammenschluss mehrerer Betriebe
Auch Kommunen, Regionalentwicklung oder Ministerien können über das innovative Potential sozialer Landwirtschaft für die Branche und/oder eine Region als Partner*in gewonnen werden.
Kooperationsmodell:
Die oben genannte Rollensplittung sieht vor, dass in den grundlegenden und alltagsrelevanten Kompetenzen für Leistungen der Eingliederungshilfe die Landwirt*innen durch verschiedene Angebote selbst ausgebildet sind oder werden und diese vor Ort abgedeckt werden. Für darüber hinaus gehende Bedarfe der Einsatzstellen und Erfordernisse nach dem Gesetz soll über eine regional-zentrale Stelle, einen Netzwerkknotenpunkt, personelle Ressourcen und Kompetenzen vorgehalten und bereitgestellt werden.
Durch diese Aufteilung können die Hürden für einsteigende Betriebe möglichst niedrig gehalten werden und gleichzeitig die gesetzlich und sachlich erforderliche Fachlichkeit gewährleistet werden.
5. Andere Anbieter*innen – wie geht das?
Von der Idee bis zum Start des Teilhabeangebots können beispielsweise folgende Schritte liegen:
- Infoveranstaltung: Auf Initiative erster Aktiver, unabhängig ob aus der Gruppe der potentiellen Teilnehmer*innen, interessierter Landwirt*innen oder von Trägerorganisationen wird zu einer Informationsveranstaltung eingeladen. Die Möglichkeiten des Modells werden vorgestellt, Fragen beantwortet und Bedürfnisse bzw. Interesse abgefragt
- Treffen der Interessierten: In einem nächsten Termin verabreden sich potentielle Partner*innen zum weiteren Austausch, Klärung von Kooperationsbedingungen und – möglichkeiten etc. und vereinbaren die nächsten Schritte zur
- Entwicklung des individuellen Kooperationsmodells: Hier wird verbindlich geklärt, wer von den Partner*innen welche Module mit welchem Aufwand und fachlicher Eignung abdecken wird.
- Gespräch mit dem Kostenträger: Sollte der zuständige Kostenträger bisher nicht Teil der Projektgruppe gewesen sein, ist spätestens jetzt der richtige Zeitpunkt für ein vorstellendes Gespräch: Andere Anbieter bedürfen keiner „förmlichen Anerkennung“, wohl aber einer Registrierung.
- Vertragsabschlüsse/Start der Teilhabengebote: Sobald interessierte Teilnehmer*innen beginnen wollen, können nun die ersten Verträge abgeschlossen werden. Dabei schließen sowohl die Partner*innen untereinander Kooperationsverträge als auch der Kostenträger mit der Projektgruppe. Die Einzelheiten der Entgelte werden an dieser Stelle offen verhandelt, so dass es wichtig ist plausible Unterlagen über Aufwand und Qualität der Angebote beizutragen.
- Netzwerk- und Öffentlichkeitsarbeit: Die Vorstellung der Projektidee kann selbstverständlich begleitend die ganze Zeit über erfolgen. Mit dem Start können die Teilhabe-Angebote auch explizit beworben werden und auf Wunsch neue Partnerbetriebe dazu stoßen.
6. Unterstützung durch Netzwerk alma
Damit Betriebe in den Bereich sozialer Dienstleistungen einsteigen können, brauchen sie einerseits die aufbereiteten Informationen und andererseits konkrete Unterstützung. Der Verein Netzwerk alma: arbeitsfeld landwirtschaft mit allen – für Menschen mit und ohne Behinderung will diese Entwicklung fördern und bietet daher an folgenden Stellen Unterstützung an:
Infoveranstaltungen
In Eigeninitiative oder auf Wunsch von Interessierten vor Ort planen wir Infoveranstaltungen und übernehmen bei Bedarf Vorstellung der Idee und stehen für Fragen zur Verfügung.
Qualitätsstandards und Modulkatalog
Zur Unterstützung in der Entwicklung des jeweiligen Kooperationsmodells stellen wir einen Modulkatalog mit unterteilten Arbeitspaketen und die entsprechenden Qualitätsstandards zur Verfügung. Dies erleichtert die klare Aufgabenverteilung der einzelnen Module sowie deren Gewichtung. An einzelnen Modellstandorten können wir auch moderierend den Prozess der Entwicklung begleiten.
Kontakt mit dem Kostenträger
In der Vorbereitung für die Gespräche mit Kostenträgern können wir standardisierte Vorlagen zu geforderten pädagogischen bzw. Teilhabe- Konzepte zur Verfügung stellen, in welchen die gemeinsamen Eckpunkte der Projektidee „Teilhabe im Arbeitsfeld Landwirtschaft“ sowie die qualitativen Ansprüche benannt sind. Dies kann als Vorlage und fundierte Argumentationshilfe genutzt werden. Die Basisversion ist dabei in klar voneinander abgegrenzte Module ausdifferenzierbar, um eine individuelle Anpassbarkeit zu gewährleisten. Zusätzliche Angebote können als Optionskatalog geführt werden.
Zur weiteren Erleichterung im Registrierungsverfahren kann eine Handreichung zusammengestellt werden, welche wichtige Schritte, Ansprechpartner und praxisbezogene Tipps und Checklisten etc. versammelt. Für die Anforderungen an Dokumentation und Qualitätssicherung kann sich eine Vorbereitung und Erstellung von Formularen zur Arbeitserleichterung je nach Charakter der Anforderung in digitaler Form, als Vorlage oder als Muster zum Ausdrucken am besten eignen.
Zur Unterstützung der Initiativen ist es auf Wunsch der Beteiligten auch denkbar, dass die Vertragsverhandlungen mit den Kostenträgern durch Moderator*innen vom Netzwerk begleitet und unterstützt werden.
Weiterbildungspakete Landwirt*innen
Für die vor Ort aktiven Landwirt*innen stellen wir verschiedene Weiterbildungspakete in praxisrelevanten Fragen der Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit Behinderung zusammen. Orientiert an bestehenden Kompetenzen und dem vorliegenden Bedarf sind das zum Beispiel:
- Workshop für Einsteiger*innen
- Fortbildungstage zu Einzelthemen
- Einführung in Strukturen und Formen kollegialer Beratung
- Vermittlung zu Weiterbildung auf Hochschulniveau
Einarbeitungswerkzeuge
Hinweise, Methoden und Handwerkszeug zur Einarbeitung und Qualifizierung der behinderten Mitarbeiter*innen werden einerseits in den obengenannten Workshops vermittelt und darüber hinaus stellt das Netzwerk von den Kammern anerkannte Qualifizierungsbausteine zur Verfügung. Diese decken jeweils Teilbereich wie z.B. „Mithilfe beim Melken“ oder „Pikieren“ ab. Die Unterlagen umfassen dabei sowohl Formulare etc. zur Anerkennung, Materialien zur Dokumentation als auch Unterweisungshilfen wie Anleitungen in leichter Sprache und mit Bildern.
Je nach eigener Kompetenz kann einstiegswilligen Betrieben eine qualifizierte Arbeitsplatzanalyse angeboten werden, um geeignete Arbeitsfelder zu erschließen und ggf. notwendige Anpassungen zu erheben. Diese kann im optimalen Fall durch die Fachkraft vor Ort übernommen werden oder wird durch externes Personal abgedeckt.
Als Begleitung in der Einstiegsphase hat sich das Instrument des Job Coaching sehr bewährt. Jobcoaches kommen auf den Betrieb, arbeiten mit und trainieren die erforderlichen Arbeitsschritte vor Ort. Außerdem unterstützen sie in der Kommunikation und können die Kolleg*innen vor Ort beraten. Die Häufigkeit richtet sich nach dem Bedarf und nimmt in aller Regel nach den ersten Wochen stetig ab. Netzwerk alma kann hier professionelle, branchenkundige Jobcoaches vermitteln, sofern sie ergänzend zur Fachkraft vor Ort benötigt werden.
7. Fazit
Mit der Zulassung von „anderen Anbietern“ ergeben sich neue Chancen attraktive, solide finanzierte Teilhabeangebote auf landwirtschaftlichen Betrieben zu eröffnen oder auszubauen. Um das für beide Seiten in guter Qualität zu erschließen braucht es einerseits regionale Partnerschaften, andererseits ein Gesamtkonzept für Qualitätskriterien und Öffentlichkeitsarbeit. Diese zu entwickeln sowie regionale Netzwerke anzustoßen und zu begleiten sind Projektbereiche beim Netzwerk alma: arbeitsfeld landwirtschaft mit allen – für Menschen mit und ohne Behinderung.